Als "O.S. Multi" auf der "Lugano" 1984 / 1985
Im Herbst 1984 war ich gerade dreiundzwanzig geworden und hatte Zürich gründlich satt. Meine Freundin hatte sich von mir losgesagt, die gemeinsame Wohnung war nun die ihre und beruflich hielt mich erst recht nichts: Ich hatte
verschiedene Teilzeitjobs, verbrachte aber die meiste Zeit mit dem brotlosen Hobby, meine wöchentliche Musiksendung beim Lokalradio LoRa zusammenzustellen. Ich wollte weg. Da kein Geld zum Reisen vorhanden war, verfiel ich auf die Idee, zur See zu fahren. Es gelang mir, auf einem Frachter anzuheuern, obwohl man mich als Schweizer mit Schulabschluss verdächtigte, verwöhnt und arbeitsscheu zu sein. Meine wenigen Möbel und Besitztümer wurden auf unbestimmte Zeit bei Bekannten im Estrich untergebracht, und ich unterschrieb einen Vertrag zu 798 Franken Monatslohn. Dann konnte es losgehen, ich wanderte aus.
Ich musterte in Bremen an und kotzte mir bald schon den Magen aus dem Leib. Die Winterstürme im Nordatlantik waren recht unangenehm, und auch sonst hatte ich es nicht besonders gut getroffen: Der Kapitän, ein Mann aus Lausanne, der ein näselndes Englisch pflegte und selbst Franzosen gegenüber auf dieser Sprache bestand, war ein pedantischer Geizkragen. Als Alleinherrscher über die MV "Lugano" hatte er sich offenbar zum Ziel gesetzt, an allen Ecken und Enden zu sparen, um selber möglichst viel Geld aus seinem Vertrag zu lösen.
Meine Anstellung als „OS Multi“ (Ordinary Seaman mit variablem Einsatzgebiet) beinhaltete die Arbeit eines Leichtmatrosen, eines Küchengehilfen, eines Stewards sowie des Chefstewards, was einem täglichen Arbeitspensum von zwölf bis zwanzig Stunden entsprach, je nachdem wie gut oder schlecht es mir gelang, mich zu drücken. Als ich ausserdem erkannte, dass ich weder sonntags noch an Weihnachten oder Ostern einen freien Tag bekommen würde, war ich drauf und dran, den Bettel hinzuschmeissen und zu türmen. Doch wäre es halt doch zu doof gewesen, zwei Wochen nach meiner Abfahrt schon wieder in Zürich anzukommen, also beschloss ich, die Sache durchzustehen.
​
Die Mannschaft der Lugano bestand vor allem aus Jugoslawen, die sich untereinander teilweise nicht besonders mochten, weil sie aus verschiedenen Gegenden der damals noch intakten Republik stammten. Als Funker arbeitete ein junger Chilene, der die Schweiz für das beste Land der Welt hielt, weil er eine Frau aus Bern kannte, und der Koch war ein Schwergewicht aus Warschau.​ Der Pole hatte besonders unter dem Regime des Kapitäns zu leiden. Gleich am ersten Arbeitstag wurde er angepfiffen, dass sein Englisch nicht ausreichend sei, obwohl laut Vertrag ausdrücklich perfektes Englisch von ihm verlangt würde. Und dann war er gezwungen, mit miesen Zutaten, die nichts kosten durften, die maulende Crew zu verköstigen und bei Laune zu halten. Es gab eine ahnsehnliche Notration gesalzenen Fisch im Kühlraum, die Adam zuerst aufbrauchen sollte, bevor neue Vorräte gekauft werden durften. Die zähen Salzteile stiessen auf wenig Beifall, doch dank konsequenter Sparpolitik leistete sich der Kapitän nach zwei Monaten einen Fernseher, den er in seiner Kabine installieren liess.
Nebst meinen Pflichten als Leichtmatrose verbrachte ich mehrere Stunden des Tages in der Küche, die ich bald als kurzweiligsten Arbeitsplatz des Schiffes schätzen lernte. Der Koch berichtete mir ausführlich von seinen zwanzig Jahren auf See und meinte, dies sei nicht das erste Mal, dass er an einen despotischen Kapitän gerate. Man müsse einfach Geduld haben, bis der Kapitän eines Tages vom Landgang nicht mehr zurückkehre, in afrikanischen Häfen liesse sich das Problem der Lugano schon zum Spottpreis von fünfzig Dollar lösen. Solche Räuberpistolen erzählte er mit seinem Wortschatz von etwa hundert englischen Wörtern, mit denen er aber jedes Thema behandeln konnte, während wir Gemüse rüsteten und Geschirr spülten. Dabei erfuhr ich zum Beispiel, dass sich die Ostmafia als Erkennungszeichen nur einen statt dreier Punkte auf den Handrücken tätowiert, dass man entzündete Augen mit einem Goldring gesundreiben soll, oder wie Halsweh und Haarausfall mit rohem Speck gestoppt werden können. Im Gratis-Lehrgang inbegriffen war auch ein Rezept für einen Mord mittels schwarzer Magie, sowie ein Strauss polnischer Flüche, die mir der Koch so lange vorsagte, bis ich sie akzentfrei wiedergeben konnte.
Der Alltag auf der Lugano war anstrengend und unspektakulär. Wir liefen monatlich ungefähr zehn Häfen an, wo wir zwischen zwölf und achtundvierzig Stunden festmachten, je nach Art der Ladung die gelöscht werden musste. Der Kapitän gab den neuen Zielhafen immer erst bekannt, wenn wir schon fast dort eingetroffen waren, doch trotzdem war mir bald klar, dass meine Chancen, ferne Kontinente zu sehen, nicht besonders gut standen. Grosse Städte wie Hamburg, Bordeaux oder Amsterdam waren für einen Landgang natürlich interessanter als einsame Industrieanlagen in Skandinavien, aber häufig legte mein Schiff in einem derart entlegenen Kanal des Frachthafens an, dass die komplizierte Reise in die freie Welt sich nicht lohnte. Ich konnte dann allenfalls ein paar Kräne besichtigen und hoffen, mit der nächsten Destination mehr Glück zu haben.
In Küstennähe von Holland oder England konnte ich haufenweise Radiostationen empfangen, die Sendungen mit viel Tempo und aufregender Musik zu bieten hatten. In Norwegen war das anders. Gerade mal ein oder zwei Sender waren im Rauschen des Aethers auszumachen, und da wurde ununterbrochen per Telefon mit der Hörerschaft gequatscht. Wenn der Redefluss nach einer halben Stunde für einmal mit Musik unterbrochen wurde, dann kam jedesmal „I just call to say I love you“ von Stevie Wonder, weil das offenbar am besten zu den besprochenen Problemen passte.
An Land war es auch nicht viel besser. Zwar war es in Norwegen meist einfach, vom Anlegeplatz der Lugano in die nächste Ortschaft zu gelangen, aber die Kneipen und Diskotheken waren überall furchtbar trostlos: man tanzte in bunt beleuchtetem Chromdesign zu Hitparadenmusik und goss ohne Unterlass alkoholische Getränke in sich hinein, obwohl diese kaum bezahlbar waren. Allen Hindernissen zum Trotz schien das liebste Hobby der Norwegerinnen und Norweger das Trinken zu sein. Der skandinavische Winter in ständiger Dunkelheit und eisiger Kälte ist ja auch kein Zuckerschlecken. Wenn die Sonne mittags nur ganz kurz hinter dem Horizont eine Dämmerung andeutet und das Termometer dreissig Minusgrade zeigt, dann spriessen bald Pickel und Depressionen, die nur mit hartem Stoff weggespült werden können. Auch mir erschienen die langen Nächte auf See nach Wodkagenuss viel kurzweiliger. Manchmal kamen mir sogar richtig gute Einfälle, zum Beispiel, mir eine Glatze zu schneiden oder mich mit zwei zusammengebundenen Nadeln zu tätowieren.
​
Einmal geriet ich doch in eine halbwegs interessante norwegische Veranstaltung, als ich von einer Disco-Bekanntschaft zu einem Abend mit Livemusik mitgenommen wurde. Die Festhalle stand einsam im Schnee, doch im Innern versammelte sich die Jugend und tanzte zu einer Band, die Hits von den Beatles bis Van Halen zum besten gab. Offiziell wurde kein Alkohol ausgeschenkt, aber dafür zirkulierten mitgebrachte Flachmänner mit selbstgebranntem Obstler, was die Stimmung im Saal spürbar stimulierte. Nach einer frenetisch bejubelten Zugabe gingen auf einen Schlag sämtliche Lichter an, und das Publikum wurde von Ordnungskräften in die kalte Nacht gejagt. Zum Verlassen der Halle formierte sich die Menge grösstenteils zu Dreiergruppen, von denen sich die jeweils mittlere Person nicht mehr selber auf den Beinen halten konnte. Auf dem Parkplatz wurde noch eine halbe Stunde weitergelärmt, wer mit wem weswegen in welches Auto einsteigen sollte, dann wurden hundert Motoren angeworfen, und die Party war vorbei.
Nach etwa zwei Monaten wurde ich nicht mehr seekrank. Nie mehr. Weder die quer anrollenden Wellen in der Biscaya noch Stürme am Nordkap machten meinem Magen noch etwas aus. Und ab und zu gelang es mir sogar, in einem Hafen ein paar Stunden an Land zu verbringen. In Nordengland blieben wir einmal fast drei Tage am Kai, obwohl das Löschen unserer Ladung eigentlich nur wenige Stunden gedauert hätte. Die Hafenarbeiter befanden sich aber im Bummelstreik. Sie bedienten die Kräne wie in Zeitlupe und machten nach jedem Arbeitsschritt Pause. Wir hatten nämlich Kohle geladen, und die britischen Bergleute befanden sich gerade im Streik. Ihr Arbeitskampf (den sie kurz darauf leider krachend verloren) wurde von den Leuten im Hafen natürlich mitgetragen. Auch in Rotterdam blieben wir einmal länger als üblich: wir sollten Sojabohnen liefern, durften aber die Laderäume nicht öffnen, weil es ununterbrochen regnete.
​
Im Sommer 1985 lief mein Vertrag aus und ich musterte in Amsterdam ab. Der Nachtzug brachte mich zurück in die Schweiz, und bald war mir klar, dass dieser Landurlaub bei Freunden und Familie etwas länger dauern würde. Nach drei Monaten kam das Angebot der Reederei für den nächsten Halbjahresvertrag, aber ich hatte keine Lust, in das schwimmende Gefängnis zurückzukehren. Stattdessen gründete ich in Zürich eine neue Band mit dem Namen Baby Jail.